Boys must Cry – Weinende Männer im Fernsehen

von Sebastian Milpetz

„Männer weinen nicht“ war früher. Heute gehört es zum guten Ton, dass Männer in Castingshows, Reality-Formaten und Trash-TV heulen. Dahinter steckt jedoch eher ein Wandel der Medien und nicht der Mentalität

„Das sind wir: ein Volk gefühlsduseliger Barbaren, weinend und Gewichte stemmend“ schrieb der  US-Journalist John Jeremiah Sullivan in „Der wahre Kern der Wirklichkeit“, seinem Aufsatz über das amerikanische Reality TV in seinem einflussreichen Sammelband „Pulphead“.

 

Auch wenn man, wie ich als langjähriger TV-Journalist, das deutsche Fernsehen aufmerksam beobachtet, kommt man zu dem Schluss, dass noch bis vor wenigen Jahren verbreitete Schwachsinnssätze wie „… kennen keinen Schmerz“ oder „Männer weinen nicht“ keine Gültigkeit mehr haben. Jedenfalls nicht im TV. Dort haben Tränen längst das Blut als meistvergossene Körperflüssigkeit abgelöst.

 

Sentimentale Barbaren in Gestalt von volltätowierte Muskelberge weinen heute vor der Kamera im besten Sinne des Wortes schamlos, wenn es Ärger mit der „Bachelorette“ gibt oder wenn der scheinbar beste Männerkumpel bei „Big Brother“ hinterm Rücken gelästert hat. Bei „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ gehört es in jeder Staffel zum guten Ton, dass die Promis am Lagerfeuer ihre Sünden beichten oder im Gesprächsraum in Tränen ausbrechen. Unterlegt mit plötzlich nicht mehr ironischer, sondern sentimentaler Musikbegleitung. Männer, die nicht vor der Kamera weinen, wenn ihre Kinder bei „Voice of Germany“ oder ähnlichen Castingshows in die nächsten Runde kommen, gelten schon fast als Rabenväter. Und die Stars bei „Sing meinen Song“ lassen es ständig in Nahaufnahme laufen.

 

Dass Männer sich offenbar nicht mehr schämen müssen, in der Öffentlichkeit zu weinen, ist natürlich erstmal eine positive Entwicklung. Denn um Häme, darum, die weinenden Männer als Abweichung der Norm zu brandmarken und der Lächerlichkeit preiszugeben, geht es nämlich im realitätssüchtigen Fernsehen nicht. Dennoch sind die weinenden TV-Männer eher das Symptom eines Medien- denn eines Mentalitätswechsel. Man darf man nicht vergessen, dass es sich hier um medial vermittelte Gefühle handelt, die zu einem bestimmten Zweck geweckt, aufgenommen und verbreitet wurden.

 

 

Emotional Turn in den Medien

Im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die man auch Emotional Turn nennt, versteht sich das Fernsehen, so meine Beobachtung, in den letzten Jahren immer weniger als Geschichtenerzähler oder Informationsvermittler, sondern mehr als Durchlauferhitzer von Gefühlen. Und das durchaus selbstbewusst und offensiv anstatt verschämt.

 

Als ich vor zehn Jahren Germanistik studiert, war Emotionsforschung gerade der ganz neue Scheiß. Die Gefühle, die jahrzehntelang zugunsten Begriffe wie Gesellschaft (oder zuletzt des Körpers) ignoriert wurden, wurden nun als unhintergehbare Tatsache des Menschlichen (wieder)entdeckt.

Nun scheint das neue Interesse an den Emotionen - anders als verwandte Begriffe wie Gefühl oder Affekt werden Emotionen in der Forschung nicht als Privatsache, sondern als soziale Vorgänge verstanden, die sich zwischen Menschen abspielt - in den Mainstream geschwappt zu sein.

 

Kleiner Tipp zur Nachprüfung meiner These: Man achte etwa darauf, wie oft das Wort „Emotion“ (und nicht etwa „Gefühl“) derzeit in Sportübertragungen gebraucht wird. Als in den frühen Tagen der Corona-Pandemie im Fernsehen alte Fußballspiele mit Originalkommentar übertragen wurden, habe ich bewusst darauf geachtet, ob die Kommentatoren in den Partien aus den 90er- oder 2000ern von Emotionen sprachen. Fehlanzeige. Beim Sportstreamer DAZN hat hingegen kürzlich ein Moderator „Emotionen vom Spielfeldrand“ angekündigt, gemeint war das obligatorische Interview kurz nach dem Abpfiff. Und Gerhard Delling fragte einmal vor einer Schalte zu einem Medaillengewinner, ob es schon Tränen zu sehen gäbe.

 

Beim Fußball waren männliche Tränen natürlich immer erlaubt, hier durften die Männers ihre Gefühle zeigen, ohne sanktioniert zu werden. Doch nicht nur beim Sport gelten wie gesagt Tränen (nicht nur von Männern) heute als die wichtigste Währung schlechthin. Wer Reality-Shows einschaltet, erwartet, dass das Fernsehen die „echten“ Gefühle der Protagonisten melkt und sie meinen Spiegelneuronen zum Fraß vorwirft. Tränen sind natürlich der sichtbarste Katalysator dieses Emotionsvampirismus.

 

Dass es sich dabei um Fakes, um rausgepresste Zähren handelt, wie viele skeptische Zuschauer vermuten, glaube ich aber nicht. Die Teilnehmer spüren eher instinktiv, was wir gierigen Beobachter von Ihnen erwarten. Wer heute im Fernsehen zu sehen sein und das Spiel mitspielen will, muss also den Gefühlen freien Lauf lassen.

 

PS: Das es mit weinenden Männern noch nicht so weit her ist, habe ich gemerkt, als ich in einschlägigen Datenbanken nach gemeinfreien Fotos zur Bebilderung des Artikels gesucht habe. Bei Schlagwörtern wie „Man“, „Crying“, „Tears“ wurden nur wenige ernsthafte Bilder ausgespuckt. Als ich „Woman crying“ eingab wurde ich von Treffern überschüttet...

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