White Men can’t jam? – Das Ende des weißen, heterosexuellen Rockers

von Sebastian Milpetz

Rock ist tot (Bild: Anthony Nodado)
Rock ist tot (Bild: Anthony Nodado)

Rock ist tot. Zumindest der geradlinige, „ehrliche“, eindeutig männlich konnotierte Gitarrenrock, der von den frühen 60er bis, sagen wir zu den Arctic Monkeys, Musikbusiness- und Kritik dominierte. Dessen Protagonisten und Fans sich als besonders „authentisch“ ansehen und ablehnend gegenüber allem bewusst Künstlichen reagieren, von Prog-Rock, Disco bis Electro.

 

Die Diagnose des Endes des Rocks ist im Musikjournalismus seit ein paar Jahren ein Gemeinplatz, doch toter als 2020 waren die weißen, heterosexuellen, (mittel)-alten Rockmänner selten. Jedenfalls wenn man sich die Jahresendlisten der großen Musikmedien anschaut. Es scheint, als habe der klassische Rock keine Antworten mehr auf die Fragen unserer Zeit.

 

Nachdem schon vor ein paar Wochen in der umstrittenen Neuauflage der Liste der 500 größten Alben aller Zeit des altehrwürdigen Rolling Stone der Kanon zugunsten von Rap, Soul und überhaupt nicht-weißer, nicht-männlicher Musik erweitert wurde, landete in der Jahresbestenliste 2020 der Hauspostille der weißen, heterosexuellen Rockmusik das neue Album von Bob Dylan (über den noch zu reden sein wird) nur auf Platz vier, hinter Taylor Swift, Fiona Apple und dem Latin-Reggaeton-Künstler Bad Bunny. Im Musikexpress, traditionell freundlich gegenüber straightem Indie-Geschrammel gesinnt, findet sich kein einziger Act, der nicht weiblich, nicht-queer und nicht-weiß ist. Bei der Liste aller Listen bei albumoftheyear.org, die sämtliche Rankings zusammenrechnet, ist nur der männlich-weiße Bob Dylan die Ausnahme, die aber keine wirkliche Ausnahme ist. Aber davon später. 

 

Weiblich, queer oder nicht-weiß - und alles zusammen

Statt von straightem (Indie)-Rock werden die Toplisten 2020 dominiert von der experimentellen, hochabstrakt verschachtelten Post-Genre-Musik von Performern wie Arca, Perfume Genius, Yves Tumor, Moses Sumney. KünstlerInnen, die sich als non-binär, genderfluid, post-heterosexuell, kurz: queer verstehen. 

 

Gewichtiger denn je waren in diesem Jahr nach dem Polizeimord am Afroamerikaner George Floyd Stimmen, die schwarzes Selbstbewusstsein artikulierten und in ihrer Musik rassistische Ungleichheit anklagten, vom britischen Neo-Soul-Kollektiv Sault bis zur ethnisch-gemischten Hip-Hop-Crew Run the Jewels. Weit vorne in den Votings liegen auch andere nicht-weiße Acts wie der nicht nur in Lateinamerika erfolgreiche Bad Bunny und die  japanisch-britische Newcomerin Rina Sawayama.

 

Und dann sind da natürlich die weiblichen Acts jeder musikalischen Couleur: Von angeschrägtem bis verhuschtem Indie-Folk (Waxahatchee, Adrianne Lenker, Phoebe Bridgers oder auch die seit neuestem in Indie machende Mainstreamkönigin Taylor Swift) über Nu-Disco-Queens (Dua Lipa, Jessie Ware, Roisin Murphy, Lady Gaga) bis hin zu Pornorapperin (Megan thee Stallion, Cardi B.) und alle Grenzen sprengenden Exzentrikerinnen (Fiona Apple).

 

Die genannten Acts repräsentieren aber nicht einfach nur nicht-weiße, nicht-männliche und queere Identitäten, sondern machen Musik, die offenbar bessere Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit geben als simpler Rock. Was sind diese Zeichen der Zeit, die der neue Pop propagiert? Die „Umarmung“ von Vielfalt und Komplexität, von Brüchen und ständigen Wandel. Der Kampf gegen Polarisierung und gegen die (Wieder)errichtung von Grenzen. Die Akzeptanz der Tatsache, dass es keine einfachen Antworten mehr gibt.

 

Diese zeitgenössische Emphase für Komplexität spiegelt sich in der „queeren“ Musik der Interpreten wider, die heute die Bestenlisten dominieren. Sie ist programmatisch fragmentiert, von zahlreichen Brüchen in Melodik und Tempo geprägt. Genregrenzen werden transzendiert, wenn Gattungen überhaupt eine Rolle spielen. Sie ist bewusst diffus und künstlich, will aber trotzdem Gefühle transportieren. Der Gesang, im straighten Rock stets in den Vordergrund gemischt, ist nur ein diffuses Rauschen unter vielen anderen Elementen, der Interpret ordnet sich der Musik unter. 

 

Solche Komplexitätssteigerungen sind natürlich nichts Neues, in den künstlerischen Avantgarden werden sie seit über hundert Jahren praktiziert. Neu und typisch post-postmodern (Stichwort Metamoderne) ist aber, dass diese Experimentierlust Emotionen (ein typisch zeitgenössisches Buzzword) befördern möchte – und in der Popkultur so breit rezipiert wird.

Ausnahmen, die die Regel nicht bestätigen

Es gibt aber auch die auf den ersten Blick non-queeren Ausnahmen in den Hitlisten 2020. Allen voran natürlich der schon mehrfach erwähnte, alte, heterosexuelle weiße Mann Bob Dylan mit seinem Album „Rough and Rowdy Ways“. Doch Dylan ist schließlich der Urvater aller fluiden, sich ständig neu erfindenden, nicht-identitären Popkünstler, der sich nie auf das Authentizitätsnarrativ des Folks, seines Ursprungsgenres, festnageln ließ. Dieses Jahr war Dylan non-binärer unterwegs war als je zuvor: „I contain Multitudes“ heißt der Schlüsselsong auf dem Album. Und dann gibt es noch die Idles. Die Punkrocker treten in ihrem Habitus zwar ultramaskulin auf, hinterfragen in ihren Texten aber Vorstellungen toxischer Männlichkeit („I kissed a boy and i liked it“, „this is why, you never saw your father cry“). In ihrem Lied „Grounds, auf vielen Songbestenlisten 2020 weit oben, solidarisieren sie sich mit der „Black Lives Matter“-Bewegung: „I raise my pink fist and say black is beautiful“ und beschwören die Macht des Kollektivs.

 

PS: Der Tod des weißen, heterosexuellen Rockers gilt natürlich nur für musikjournalistische Diskurse. Das in Deutschland meistverkaufte Album 2020 war „Power Up“ der weißesten, heterosexuellsten, rockistischsten Band der Welt: AC/DC … 

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